Nancy Dwyer kennt das Fernsehen, vor allem TV-Werbespots. Verheissungen, Anweisungen, Aphorismen, Plattitüden: Die Sprache der Werbung ist Dwyers Material. Aber auch Songtexte, Slang, Juristenjargon, wie wir ihn etwa aus Pseudo-Reality-TV-Gerichtsshows kennen, umgangssprachliche Ausdrücke und Redewendungen sind Ausgangspunkte für Nancy Dwyers künstlerisches Schaffen — Worte und Wortfetzen der massenmedialen Alltagssprache, die unser Verständnis der US-amerikanischen Kultur prägen. In den Medien der Malerei, Skulptur, Papier und Animation macht Dwyer Worte zu Bildern. Ihre Werke zwingen die Bedeutung oder auch das, was sich als bedeutungsvoll ausgibt, dazu, sich selbst zu offenbaren. In Hot Mess (2024), dem titelgebenden Werk der Ausstellung, ersetzen die beiden Wörter „Hot“ und „Mess“ das Logo der US-amerikanischen Filmproduktionsgesellschaft 20th Century Fox, das auf eine gebogene Holzplatte gemalt ist, die an einer Fernsehhalterung montiert wurde. In der Skulptur Big Ego (1990/2024) lässt Dwyer die Buchstaben E, G und O signalgelb und übergross aufblasen. Das Gemälde Kick It (1991) spinnt den populären Song der Hip-Hop-Band Tribe Called Quest weiter bis zur Sinnentleerung — Can I Kick It? Ja, du kannst. Kann ich es denken? Ja, du kannst. Kann ich es riechen? Ja, du kannst. Und so weiter und so fort.
„SEI DU SELBST”. Nancy: „Als ich diesen Motivationsspruch zum ersten Mal hörte, dachte ich sofort: Ihr denkt, man hat eine Wahl? Ich war so verwirrt. Aber inzwischen ist mir klar geworden: Erstens, dass Wahlfreiheit ein Konzept ist, das auf Privilegien beruht, und zweitens, dass Wahlfreiheit eine Illusion ist.“
Dwyers Werk wird häufig mit der Pictures Generation in Verbindung gebracht, ein Begriff, den der Kunstkritiker Douglas Crimp 1977 mit der von ihm kuratierten Ausstellung Pictures im Artists Space in New York prägen sollte. Crimp stellte das gemeinsame Interesse der mit der Pictures Generation assoziierten Künstler:innen an Zeitungen, Zeitschriften, Werbung, Film und Fernsehen heraus — Medien, die sie als Signifikanten der Realität verstanden. In den Arbeiten der Pictures Generation wurde Subjektivität durch die Linse der (massen-)medialen Mechanismen des Konsums betrachtet, und darin zugleich kreativer Ausdruck gefunden. Kein Ich ohne sein Abbild, lautete die These. Die Theorien des Medienphilosophen Jean Baudrillard waren in aller Munde: Durch die Allgegenwart der Massenmedien schien es keine authentische Erfahrung mehr zu geben. Künstler:innen riefen eine Ordnung der Simulation, der Verdopplung aus, die auf keinem erkennbaren Original mehr gründete. Sie eigneten sich die Verführungsstrategien der in alle Lebensbereiche hineindrängenden Werbung an, um ihre Funktionsweise offenzulegen und unser Bewusstsein für sie zu schärfen. Doch der Konsumismus hält an, unser Verlangen ist noch nicht gestillt, und jetzt, da wir seine Mechanismen kennen (oder zu kennen glauben), hat sich das Spielfeld des Konsums nur erweitert. Heute lassen wir uns nicht nur gerne vorgaukeln, dass ebendies uns Befriedigung verschafft, sondern wir finden überdies Genuss in der Täuschung, kritische Konsument:innen zu sein.
Nancy: „Ist euch schon einmal aufgefallen, dass wir alle denken, dass Werbung bei allen funktioniert, ausser bei uns selbst? Kleiner Tipp: Das bedeutet, dass sie funktioniert. Aber sie hat uns auch alle zu Expert:innen ihrer Sprache gemacht.“
Während andere Künstler:innen ihrer Generation die Populärkultur ablehnten oder ihr mit Gesten ironischer Distanz begegneten, feierte Dwyer sie mit einer Ambivalenz, mit einem Vergnügen an Pop-Referenzen und einem gleichzeitigen Zerlegen dieser, das eher direkt und witzig als distanziert und ironisch ist. Dwyers Arbeiten haben oft nicht nur eine, oder zumindest keine eindeutig zuordenbare Quelle; vielmehr sind sie Zusammenschnitte vertrauter Referenzen, die fest in unsere visuellen und textuellen Imaginationswelten eingeschrieben sind. So etwa in der Arbeit Hot Mess: Das Logo von 20th Century Fox wird durch das Wortpaar, das sowohl ein grosses Durcheinander als auch ein „heisses Ding“ bezeichnen kann, verdrängt und verspottet. Oder es ist umgekehrt, und die Grafik setzt das „Hot Mess“ neu in Szene und „bringt es in Ordnung“. In kritischer Nachahmung spielt Dwyer mit den psychologischen Tricks des Branding und Marketing, wobei diese mal überreizt und übertrieben, mal belächelt und verharmlost werden, aber dabei immer mit Humor und mit einer — wie sie es ausdrücken würde — „trotzigen jugendlichen Energie“.
Hot Mess ist die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin in Europa und die erste grosse Werkpräsentation nach einer fast zehnjährigen Ausstellungspause. Die Ausstellung vereint Arbeiten von den 1980er Jahren bis heute, darunter eine neue Werkserie sowie zwei Kunstwerke im öffentlichen Raum, den Dwyer immer wieder zum Ort ihrer künstlerischen Arbeit macht. Aus dem Frühwerk werden unter anderem die Wortskulptur LIE (1986) — die drei Buchstaben des Wortes sind in marmorähnliches Formica gehüllt — und Twin Towers (1985) präsentiert. Letztere Arbeit zeigt zwei Päpste, rückseitig auf Plexiglas gemalt, die emblematisch für eine Logik des Doppelten anstatt einer Logik des Originals stehen. Dwyers neue Serie — acht bemalte, gebogene Holztafeln, die an einer TV-Halterung befestigt sind — vertiefen das Interesse der Künstlerin an der universellen Macht des Fernsehens: vom absurden Prädikat einer „Vorabgenehmigung“ in Preapproved (2024), über die ewige Schleife von Picture This (2024) — wobei das Wort „THIS“ selbst das Bild ist — bis hin zu dem sich immer weiter verfestigenden, aber ach so beruhigenden Gefühl hinter Comfort Zone (2024). Auf dem Platz hinter der Kunsthalle wurde das Werk Shadow of a Doubt (1991/2024) in neuem Licht inszeniert. Es ist nach Einbruch der Dunkelheit zu sehen. Nur einen kurzen Spaziergang entfernt befindet sich die Arbeit Obsession Overruled (1985/2024), die ursprünglich auf Werbetafeln in ganz New York City installiert wurde und die Verdrängung von verbotenen Wünschen anzeigt; das Werk ist während der ersten drei Wochen der Ausstellung zu sehen.
Dwyers Arbeitsweise ist präzise, intensiv und, anders als ihre Arbeit mit Populärkultur und Massenmedien vermuten lassen könnte, nicht mechanisch, sondern handgemacht. Dwyer ist ausgebildete Schriftenmalerin, was sich unter anderem in ihrem künstlerischen Verfahren, das sie als „inside out“ bezeichnet, widerspiegelt: Anstatt Bilder in Sprache zu übersetzen — eine konzeptuelle Methode, die mit der kunsthistorischen Tradition der Entmaterialisierung des Kunstwerks verbunden ist, die sich aus der Kritik am Objekt und seiner Kommerzialisierung begründet — materialisiert Dwyer die Sprache als Bild.
Der Retro-Glanz einiger Werke, die unterschiedlichen Oberflächen- und Materialstrukturen, von schimmernd-schillernd bis matt-dumpf, das künstlerische Spektrum von direkten, plakativen Formen bis hin zu kitschig-knalligen Ästhetiken: Dwyers unaufhörliches Spiel mit Massstäben, Bildebenen und Bewegungen offenbart eine komplexe Praxis, die sich sowohl der Geschichte der Malerei als auch den Mechanismen der Zeichen- und Bildproduktion annimmt und hinter den Glanz blickt, der über die Illusion der freien Wahl triumphiert.
Eine Publikation zur Ausstellung erscheint 2025.
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Nancy Dwyer (*1954 in New York, lebt in Santa Fe) war Mitbegründerin von Hallwalls, einer gemeinnützigen Organisation, die 1974 als Genossenschaft für Künstler:innen in Buffalo, ny, gegründet wurde. Dwyer hat in bedeutenden Museen weltweit ausgestellt, darunter eine Retrospektive im Fisher Landau Center for Art in New York im Jahr 2013, „The Pictures Generation“ im Metropolitan Museum of Art in New York im Jahr 2009 und „Bad Girls“ im New Museum of Contemporary Art in New York im Jahr 1994. Sie hat an Ausstellungen und Biennalen im Whitney Museum of American Art in New York, im moca in Los Angeles, im Contemporary Art Museum in Houston, im Museum of Contemporary Art Chicago, im Kunstverein Frankfurt und im National Museum of Art in Osaka teilgenommen und zahlreiche Aufträge für den öffentlichen Raum realisiert, darunter eine Plakatserie für die New Yorker U-Bahn. Von 2004 bis 2019 war Dwyer Professorin an der University of Vermont.
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Die Kunsthalle Winterthur dankt Valeria Napoleone; Theta, New York; Museum Voorlinden, Wassenaar; NNEMoCA, Burlington; Centraal Museum, Utrecht; Welti Furrer AG, Zürich; Luft und Laune GmbH, Regensdorf; Villa Sträuli, Winterthur; Genossenschaft zum Steinhof, Winterthur.
Die Ausstellung wird unterstützt von VN XX A, Theta, New York und Welti Furrer AG.