Die Ausstellung « On Thresholds and Boundaries » vereint vier künstlerische Positionen, die alle zum ersten Mal für die Edition VFO neue Werke geschaffen haben. Andriu Deplazes, Lisa Lurati, Noha Mokhtar und Manon Wertenbroek sind vier junge Künstlerinnen und Künstler aus drei verschiedenen Sprachregionen der Schweiz. Ihre jeweilige künstlerische Praxis ist sehr unterschiedlich und spiegelt sich in den präsentierten Werken wider: von der skulpturalen Erforschung der Materie bei Wertenbroek, über die malerische Auseinandersetzung mit Existenzfragen bei Deplazes, die zeichnerische Evokation unterbewusster Visionen bei Lurati bis hin zur anthropologisch-ästhetischen Untersuchung von Alltagsgegenständen bei Mokhtar.
Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf unterschiedliche Arten von Grenzen und Schwellen. Einerseits sehen wir bei Mokhtar das Verwischen der Grenzen zwischen häuslichem und öffentlichem Raum, zwischen dem Privatleben der Künstlerin und ihrer künstlerischer Tätigkeit. Bei Wertenbroek rückt unsere Körperlichkeit ins Zentrum, angedeutet durch die Kleidung, die uns einerseits schützt und andererseits unsere performative Erscheinung nach aussen kommuniziert. Ähnlich verhält es sich bei Deplazes, der vom Äusseren in das Innere (oder umgekehrt) vordringt, und dabei den Menschen von seiner Kleidung als Merkmal der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu erlöst. Dabei zeigt er den menschlichen Körper als die Schwelle, an der wir unsere Existenz erfahren. Luratis Arbeiten legen nahe, dass sich viele Erfahrungen jenseits der Körperlichkeit abspielen, auch wenn wir innerhalb der Grenzen unseres Körpers und unserer Umwelt gefangen zu sein scheinen.
Noha Mokhtar wählte als Motiv für ihre Fotogramme den Balkon, einen Ort an der Schwelle zwischen innen und aussen, privat und öffentlich. Der Balkon stellt Fragen nach individueller und kollektiver Raumnutzung, von Schutz, gegenseitiger Überwachung und nachbarschaftlichem Austausch. Mit der Serie «Saadiya (bleue)» stellt Noha Mokhtar – wie so oft in ihrem Werk – auch einen Bezug zu ihrem persönlichen Leben her, denn die dargestellte Balkonbrüstung ist die ihrer Tante Saadiya in Kairo. Das verzierte Metallgeländer symbolisiert für die Künstlerin ihre Kindheitserinnerungen an sommerliche Besuche bei ihrer Verwandtschaft.
Auch bei Lisa Luratis Edition spielen Reisen eine zentrale Rolle. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um Familienbesuche, sondern um Expeditionen der etwas anderen Art, nämlich schamanische Visionssuchen. Die von Lurati dargestellte Welt ist von solchen Reisen ins Unbewusste inspiriert. Die Künstlerin kombiniert das zeichnerische Medium der Gravur auf Kunststoffplatte mit dem malerischen Verfahren der Monotypie, um die durchlässige Grenze zwischen Bewusstsein und Traum zu veranschaulichen.
Die aus drei Lithografien bestehende Edition von Andriu Deplazes zeigt unterschiedliche Szenarien, die uns allmählich von der Weite einer idyllischen Landschaft in die Intimität eines Interieurs führen. Allen Werken liegt eine dualistische Gegenüberstellung zugrunde: von Mensch und Natur, von kollektiven Machtsymbolen und individueller Zerbrechlichkeit, von zwischenmenschlicher Nähe und Einsamkeit. Mit seiner einzigartigen malerischen Bildsprache zeigt Deplazes, wie subtil und komplex die Grenzen zwischen diesen Gegensätzen tatsächlich sind und wie fragil die menschliche Existenz ist.
Die Fragilität des Menschen und die Vergänglichkeit des Lebens werden auch in der Edition von Manon Wertenbroek angedeutet. Ihre Wandobjekte hat die Künstlerin mit Kleiderfragmenten gefertigt. Kleidung dient uns nicht nur als Schutz, sondern auch als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, sei es zur Demonstration der Zugehörigkeit oder umgekehrt als Abgrenzung von anderen. Wie «alte Häute» zeugen die Kleidungsstücke von vergangenen Lebensabschnitten und dem sich verändernden Äusseren als Spiegel eines inneren Wandels.