Vernissage 9. Mai 2021
Wind Nordost, Startbahn null-drei… So begann im Jahr 1974 Reinhard Mey seine Hymne an die Freiheit. Glücklicherweise ist das Flugzeug nur eines von vielen Mitteln zum Abheben. Bereits in frühen Kulturen versuchten die Menschen, den Flug der Insekten und Vögel zu imitieren und übertrugen ihn in Form von Ritualen und magischen Darstellungen auf den menschlichen Körper. Doch Überirdisches anzustreben war und ist riskant, wie schon die Hybris des Ikarus zeigte. In der Renaissance hatten solche Pläne wieder Hochkonjunktur und Universalkünstler nicht nur im übertragenen Sinn höhere Sphären im Kopf. Obwohl sich ihre Höhenflüge hauptsächlich am Reissbrett ereigneten, wurden sie zu Fixsternen für Generationen von Bastelnden, Träumerinnen und Tüftlern. Ein solcher war auch Gustav Mesmer (1903–1994). In der Psychiatrie experimentierte er mit Schwingen, Schirmen und Sprungschuhen aus einfachsten Materialien, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen: Er wollte mit dem Velo fliegen, die dunklen Wolken erklimmen.
Mesmers Jahrzehnte währende Transformationsversuche sind von einer Experimentierlust durchdrungen, wie sie auch in Roman Signers (*1938) poetischen Materialkonstellationen und -kollisionen beständig ausbalanciert, losgelöst oder entzündet wird. Auf diese Weise wurde in den 1970er-Jahren ein neuer Skulpturenbegriff ans Firmament der Kunst katapultiert. Mit lakonischem Witz, Raketen, Luftballons und Hubschrauber nahm Roman Signer 1985 in seinen "Aktionen" auch den Luftraum über der Kartause Ittingen ein.
Erst von oben erschliesst sich die Architektur der Klosteranlage, die eigens auf das asketische Dasein von Einsiedlermönchen zugeschnitten war, wie die von der Konzeptkünstlerin Daniela Keiser (*1963) gesammelten Luftaufnahmen zeigen. Jahrhundertelang war für Gläubige der Himmel moralische Instanz, Ziel und Zweck des irdischen Daseins. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen…
Gustav Mesmer, Roman Signer und Daniela Keiser sind drei Beispiele, wie das Thema Fliegen und die Ausstellung "Über den Wolken – Anleitungen zum Abheben" im Kunstmuseum Thurgau selbst Vergangenheit und Gegenwart, "Aussenseiter" und zeitgenössische Konzeptkunst zu verbinden vermag.
Auch wenn der göttliche Himmel weitestgehend ausgedient zu haben scheint – für die Kunst hat der Himmel nichts von seiner Magie verloren: Er steht für die Suche nach Spiritualität, Visionen und Gegenentwürfe und beflügelt die Vorstellungskraft noch immer. Vorstellungen vom Abheben bieten der Kunst bis heute traumhaft schöne wie tragische Motive und verleihen der Fantasie immer neuen Auftrieb.
In der Ausstellung nimmt der Traum vom Fliegen auf ganz unterschiedliche Weise Gestalt an: Engel, Vögel und Gleitschirmfliegerinnen, zaudernde Turmspringer und Sehnsuchtsgeschichten vom Loslassen, Anlaufnehmen und Entschweben werden zu Starthilfen für metaphorisches Abheben, philosophische Gedankenflüge oder kleine Alltagsfluchten. Manchmal ist der Traum vom Fliegen annähernd so schön wie seine Erfüllung – der Himmel kann warten.
Schliesslich sind Vorstellungen vom Absprung und der Schwerelosigkeit für die Kunst nicht zuletzt so interessant, weil sie selbst für die Loslösung vom irdischen Hier und Jetzt und die Erkundung neuer Sphären steht. Sie bietet unendlich viel Raum für das, was grösser ist als der Alltag, die eigene Wahrnehmung und unsere Gegenwart. Im Idealfall werden dabei – beim Fliegen und in der Kunst – Strukturen im grossen Ganzen sichtbar. Und dann würde was uns gross und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.
Mit Werken von Joëlle Allet, François Burland, Andrea G. Corciulo, Helen Dahm, Danielson/Van Aertryck, Christoph Draeger, Othmar Eder, Gabriela Gerber & Lukas Bardill, Daniela Keiser, Marc Latzel, Gustav Mesmer, Rahel Müller, Ursula Palla, Oliver Pietsch, Margrit Roesch, Paul Schlotterbeck, Roman Signer, Bernard Tagwerker, Cécile Wick, Cristina Witzig u.a.
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Die Vernissage findet in drei Etappen statt: um 11.30, 14 und 16 Uhr. Pro Zeitpunkt ist eine Anmeldung erforderlich. Dies ist über den jeweiligen Termin in unserer Agenda möglich.