Eine lange Textilbahn zieht sich durch den Kunstkasten, wurde auf Stangen gelegt, die sie halten, sie sanft nach unten durchhängen lassen. Wir sehen sie von aussen, durch die grossen Schaufenster, tauchen in die Szenerien ein, die darauf abgebildet sind. Ähnlich fragmentarisch wie die Stoffstücke, mit denen der Quilt komponiert wurde, sind auch die digitalen Cut-and-Paste-Aufnahmen, die darauf zu sehen sind. Es sind Aufnahmen von Google Earth, vom Videospiel ‘Grand Theft Auto’, durch das Johanna Müller (*1990, Winterthur) als Avatarin wandert. Als «Internetflaneurin», wie sie es selbst nennt, bewegt sie sich ziellos in den digitalen Bildern umher und geht gleichzeitig darin unter. Damit thematisiert sie die Überlagerung von Räumen wir können von der digitalen schnell wieder in die analoge Realität wechseln oder in beiden parallel verweilen.
«We have always been cyborgs», formulierte es Stefan Lorenz Sorgner in seinem gleichnamigen Buch, das 2021 erschien. Damit trifft er einen Nerv, wenn wir darüber nachdenken, wie schnell wir nach unseren Smartphones greifen, wie oft es unser Fenster in die Aussenwelt ist, die Verlängerung unserer Sinne. Realitäten verschmelzen miteinander, lassen sich gar nicht so leicht voneinander trennen.
Virtuelle Räume können aber auch Projektionsfläche, eskapistischer Ort sein, wie es in vielen Videospielen der Fall ist.
Wir erkunden deren Landschaften als Avatare und gestalten sie gleichzeitig unseren Wünschen entsprechend. Wie statten sie mit Eigenschaften aus, die den unseren ähnlich oder die wir gerne hätten. Ein Rollenspiel, das mit der binären Geschlechterordnung bricht, mit starren Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von normierten Körpern. Und dennoch sind auch diese Räume von gesellschaftspolitischen Verhältnissen durchdrungen; sie sind ihr Spiegelbild. Denn die Entwicklung dieser Spiele wird von den vorherrschenden Normen geprägt, die nicht selten rassistisch und patriarchal sind. Denken wir an jene Algorithmen, die in Videospielen die Gesichter der Spielerinnen und Spieler scannen und dabei stereotype Abbildungen von People of Color entstehen lassen. Und führen wir uns diese Wechselwirkung vor Augen: Wie sehr ist unser Leben tatsächlich «veränderbar», wie der Ausstellungstitel ‘mutable life’ suggeriert, wenn wir in virtuellen Realitäten verweilen?
von Giulia Bernardi
Erschienen im Kunstbulletin 5/2022
Ausstellungstext
von Kuratorin Julia Wolf
«Die Künstlerin interpretiert in ihrer neuen Textilarbeit reale Orte und Schauplätze, die massgeblich zur Entstehung der Hyperrealität beigetragen haben und sie zukünftig vorantreiben. So vermischen sich Aufnahmen von Google-Earth Reisen zum Silicon Valley oder zum Utah Data Centre mit fiktiven Ausflügen in der virtuellen Stadt «Los Santos» des Action-Abenteuer-Videogames GTA (Grand Theft Auto), die wiederum inspiriert von realen Schauplätzen wie beispielsweise dem Viertel Venice Beach in Los Angeles erschaffen wurden. Als Virtual Reality Avatarin flaniert Müller dort ziellos am Strand entlang, geht im Meer schwimmen oder geniesst den Ausblick von einem der Hügel. Die digital entstandenen Screenshots bilden als Textildruck die Schauseite eines Quilts und verbinden sich mit der Unterseite, auf der essayistische Textfragmente die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einem greifenbaren Ort befragen.»
Textildruck auf Satin, doppelseitig
Ausstellungsansicht
«mutable life», Kunstkasten Winterthur
Fotografie: Fabian Stamm
Textildruck auf Satin, doppelseitig
Ausstellungsansicht
«mutable life», Kunstkasten Winterthur
Fotografie: Fabian Stamm