Als Kunstkollektiv Boyband CHIC sahen wir uns unmittelbar von den Massnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 betroffen. Unsere erste ausserkantonale Einzelausstellung, für die wir vom Ausstellungsraum PTTH:// in Luzern eingeladen wurden, konnte leider nicht regulär stattfinden. Aufgrund der fortschreitenden Pandemie sahen wir uns gezwungen, von unserem ursprünglichen Ausstellungsvorhaben abzusehen und uns der Situation entsprechend neu zu orientieren.
Wir suchten nach einer Form, die ohne die physische Anwesenheit der Betrachter*innen auskam und uns als Kollektiv trotzdem ein ortsspezifisches Arbeiten im Ausstellungsraum ermöglichte. Ausgehend von diesen Überlegungen entschieden wir uns dazu, den Ausstellungsraum ins Internet zu transferieren. Die "VR-Experience" sollte partizipativer, spielerischer und experimentierfreudiger sein als ein herkömmlicher Online-Ausstellungsrundgang, der sich oftmals lediglich auf die Darstellung einer physisch existierenden Ausstellung beschränkt.
"VR Experience“ (2020) ist eine Webseite, die sich an der Form eines Point-and-Click-Games orientiert, dadurch aktiv zur Partizipation auffordert und gleichzeitig auch deren Grenzen sichtbar macht. „VR Experience“ beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern es möglich und gewinnbringend ist, einen physisch existierenden Raum online nachzuempfinden. Auf der Webseite können verschiedene Orte erkundet werden, die entweder real existierende Räume des Luzerner Offspaces PTTH:// fotografisch wiedergeben, sie als digitales Rendering rekonstruieren, von realen Räumen inspiriert oder frei dazu erfunden sind. Mehrere in die Webseite eingebettete Videoperformances werfen die Frage auf, wie sich das Ausbleiben eines Publikums auf eine Ausstellung auswirken kann.
Für den Hauptausstellungsraum wurde ein virtuelles Duplikat erstellt, in welchem sich das Publikum frei bewegen kann. Scheinbar achtlos liegengelassene Badetücher verweisen auf die einstige Anwesenheit von Menschen im Ausstellungsraum. Trotzdem wird nicht über den Umstand hinweggetäuscht, dass die gesamte Ausstellung als computerbasierte Simulation stattfindet. Es entsteht eine neue Form der Ortsspezifität, die auf den real existierenden Raum im PTTH:// verweist, aber neue Gesetzmässigkeiten mit sich bringt, die im realen Raum nicht umsetzbar gewesen wären.
Die entstandene, digitale Rauminstallation, oszilliert visuell zwischen Konzertlokal, Club und City-Beach-Bar. Das Publikum ist dazu eingeladen, die virtuelle Bühne zu betreten und beim Boyband CHIC Hit „si tanzet“ mitzusingen.
In der "VR-Experience" hat das Publikum die Möglichkeit, sich innerhalb gewisser, vordefinierter Grenzen frei zu bewegen. Die Webseite ist mit voller Absicht semipartizipativ und verzichtet auf ein Moment des Live-Austauschs. Dieses Live-Moment, wie wir es nun von etlichen Zoom-Vernissagen und Skypéros kennen, ist nur allzu oft bestenfalls teilweise befriedigend.
Dem Publikum wird ein interaktives Werk geboten, dessen Zusammensetzung und Erzählstruktur frei gewählt werden kann. Das einzigartig-utopische Ausstellungserlebnis ist jederzeit von überall auf der Welt abrufbar. Alle Performances beginnen genau dann, wenn das Publikum den jeweiligen Raum betritt.
Die "VR-Experience" bietet auf inhaltlicher Ebene verschiedene Zugänge: Es ist einerseits denkbar und auch klar beabsichtigt, sich nach Lust und Laune durch die Ausstellungswelt zu klicken und sich von der humorvollen Bildwelt einnehmen zu lassen. Andererseits bietet die „VR-Experience“ die Möglichkeit einer tiefgründigen Auseinandersetzung damit, was es heisst, online Kunst zu rezipieren. Die Frage drängt sich auf, in welchem Mass ein anwesendes und aktiv agierendes Publikum für eine Ausstellung konstitutiv ist.
Gemäss bewährter Strategien namhafter Ausstellungsinstitutionen befindet sich im Zentrum der "VR-Experience" ein monumentaler Souvenir-Shop. Der Kauf von Souvenir-Artikeln avanciert gewissermassen zur höchsten Form der Partizipation, die es zu erreichen gilt. Durch den Kauf wird Kunst gleichermassen demokratisiert und legitimiert. Alle dürfen ein Stück davon mit nach Hause nehmen.